Leider komme ich erst jetzt dazu, meine
Eindrücke aus Tunis in geschriebene Worte zu fassen. Aber ich will
es doch heute noch tun, bevor die ganzen Kleinigkeiten und
Empfindungen ganz aus meinem Bewusstsein verschwinden.
Mit jedem Schritt und jedem Blick habe
ich Tunis mit Kairo verglichen. Das ist ganz automatisch passiert.
Weil mir Ägypten ganz nah am Herzen liegt. Weil mich Kairo sehr viel
mehr berührt als Amman, die zweite arabische Stadt, die ich relativ
gut kennengelernt habe. Weil jeder, der seit Ende 2010 die
politischen Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain,
Syrien – um nur die prominentesten Beispiele zu nennen – verfolgt
hat, sich heute fragt: Warum scheint die Revolution nur in Tunesien
Erfolg zu haben? Und warum zögert man heute, vier Jahre später, die
Aufstände der Massen Revolution zu nennen?
Damit jetzt keine falschen Erwartungen
aufkommen: Ich kann die Fragen nicht beantworten.
Ich habe so meine Vermutungen. Aber
jedes Mal, wenn ich diese mit der Realität abgleiche, stelle ich
fest, dass ich eigentlich nichts weiß. Zusammenhänge nicht sehe,
Hintergründe nicht kenne, simple Fakten nicht parat habe. Das liegt
in der Natur der Sache. Alles ist vielfältig verwoben und
differenziert, entwickelt sich ständig weiter.
Tunis, jedenfalls. So anders und doch
so ähnlich wie das Kairo, das ich kenne.
Es beginnt schon am Flughafen. Nach
Pass- und Gepäckkontrolle erwartet mich keine laut rufende Masse von
Menschen, aus der immer wieder einzelne hervortreten, meine Tasche zu
packen versuchen und mir ihr Taxi aufdrängen wollen. Eine irrsinnige
Kakophonie. Ich hasse es. Ganz anders hier: Vor dem Ausgang stehen
zwar überall Menschen, doch da ist reichlich Platz zwischen ihnen.
Niemand quatscht mich an oder bedrängt mich. Auf der Suche nach dem
Fahrer, den das Hotel geschickt hat, kann ich frei gehen, muss
niemandem ausweichen oder jemanden bitten, aus dem Weg zu gehen.
Mein Arabisch funktioniert unterdessen
soweit, dass ich dem Mann erklären kann, dass ich statt ins Hotel
zur Botschaft muss. Wir treten aus dem Flughafengebäude und mir
fällt auf wie frisch die Luft ist. Keine sich aufdrängenden
Gerüche, keine sichtbare Staubglocke, kein gelber Dunst.
Der erste Weg führt also zur
Botschaft. Die Zufahrtsstraßen sind ausgebaut wie Autobahnen,
Abfahrten hoch und runter, von einer Bahn zur anderen, das kenne ich
aus Kairo. Auch dass der Fahrer den Weg nicht kennt, ihn auch nicht
findet und mich schließlich, weil er wegen der einstündigen
Verspätung meines Fliegers keine Zeit mehr hat und weiter muss, an
ein Taxi übergibt, das mich ein ganzes Stück zurückfährt und dann
sicher abliefert, passt ins Bild. Aber niemand hupt, wirklich niemand
auf der gesamten Strecke. Die Autos folgen den eingezeichneten
Spuren, stoppen an roten Ampeln. Ich habe kein einziges Mal den
Gedanken: „Ich will noch nicht sterben“, der mir in Kairo doch
hin und wieder kam.
Und dann plötzlich dieser Geruch:
Salz, Fisch und Algen. Ein bisschen zu intensiv, weil Tunis vom
Mittelmeer durch große Seen getrennt wird. Und kurz später der
Blick von der Terrasse der Botschaft. Die weite Wasserfläche mit
einigen Gipfeln im Hintergrund, das weiche Licht, die Stadt erstreckt
sich weit ins Landesinnere. Ich mag die Stadt schon jetzt. Aber eine
dieser mir eigenen Irrationalitäten hat mich auch am nächsten Tag
davon abgehalten, dort Fotos zu machen.
Später treffe ich mich mit einer
Journalistin aus Kenia, die ich hierher eingeladen habe und die am
gleichen Tag Geburtstag hat wie ich. Wir gehen essen, spazieren ein
bisschen den Boulevard entlang, der Habib Bourguiba heißt, ich
trinke noch einen Kaffee. Der ist scheußlich, ich schmecke vor allem
die Desinfektionsmittel aus dem Leitungswasser. Vereinzelt bleiben
junge Männer stehen, versuchen uns anzusprechen und gehen weiter als
wir sie ignorieren. Ich sehe viele wunderschöne Frauen, die Haare
offen, die Kleidung körperbetont. Selten eine einzeln, aber häufig
Runden, in denen Männer und Frauen gemeinsam sitzen, reden und
lachen.
Auch in den nächste Tagen fällt mir
auf, um wie viel entspannter ich den Umgang der Menschen hier
miteinander empfinde. Die Gehwege sind breit, nicht blockiert von
Bäumen, Müll oder Autos, und können deshalb auch tatsächlich von
Fußgängern benutzt werden. Das führt zu dem einfachen Fakt, dass
sich nicht alle Verkehrsteilnehmer ein und dasselbe Stück Straße
teilen müssen wie es in Kairo häufig ist. Und erspart allen
Beteiligten, permanent wachsam sein zu müssen, um anderen
auszuweichen, sie vorbeizulassen oder sich an ihnen
vorbeizuschleusen. Zudem ist die Masse der Menschen sehr viel weniger
drückend, was vermutlich der Tatsache geschuldet ist, dass in Kairo acht Millionen Menschen wohnen, während es in Tunis zwei Millionen sind.
Es ist so viel weniger laut hier,
obwohl mein Hotel mitten im Getümmel liegt. Gehupt wird wie ich es
aus Deutschland kenne – wenn ein anderes Auto die Straße
blockiert, sich vordrängelt oder der Fahrer träumt. Der Muezzin-Ruf
fällt mir nur auf, wenn ich gerade zufällig an einer Moschee
vorbeikomme. In Ägypten muss man zu den Gebetszeiten jegliches
Gespräch unterbrechen, das man gerade unter freiem Himmel führt.
Jede Moschee versucht die andere zu übertönen, inklusive
Zerrgeräuschen aus ihren Lautsprechern und einem irritierenden
Mangel an Synchronisation, weil es scheinbar keine Funkuhren in
Ägypten gibt und die Gebetsrufe zum Teil mit einem Abstand von
mehreren Minuten einsetzen. Ist man gerade zufällig in einer
unterirdischen Metro-Station, muss man um sein Gehör fürchten, so
laut drehen sie dort die Lautsprecher auf.
Das auffälligste Zeichen ihrer
Religion, ihr Kopftuch, trägt frau hier schlicht. Ich sehe keine der
aufwendigen Wickeltechniken, wie sie die Ägypterinnen oft tragen.
Eine einzige Frau im Niqab begegnet mir in der kurzen Zeit, alle
anderen zeigen ihr Gesicht.
Ich laufe und fahre mehrmals durch die
Stadt, finde zumindest zwei Stunden Zeit auch durch die Altstadt und
ihre Suqs zu bummeln und werde am letzten Tag auf dem Heimweg von der
Dunkelheit überrascht. In der Medina gebe ich ganz die Touristin,
mit weitaufgerissenen Augen, Schlender-Takt,
Hans-guck-in-die-Luft-Haltung und Kamera in der Hand. Die Kuppeln
über den Gässchen der Märkte faszinieren mich mit ihren
Lichteinlässen, ich bestaune die bunten Fliesen an vielen Häusern,
bewundere die kunstvollen Verzierungen an den Außenwänden der
Moscheen. Die schwarzen Pflastersteine auf dem Boden sind wie poliert
von Milliarden Füßen, ein paar Mal schlittere ich unkoordiniert von
einem Stein zum anderen. Die vor den Läden sitzenden Männer
sprechen mich nur vereinzelt an, das ist noch so ein Unterschied: im
Khan el-Khalili in Kairo spricht einen jeder Einzelne an, gerne auch
mehrfach. Ich kaufe nichts außer ein paar Süßigkeiten und einer
kleinen Gebetstrommel – auch weil ich meinen positiven Eindruck
nicht zerstören will. Arabischen Händlern fühle ich mich nach wie
vor nicht gewachsen und habe nach Abschluss eines Geschäfts fast
immer den Eindruck, dass ich gerade über den Tisch gezogen wurde.
Auf meinen Wegen durch den Rest der Stadt werde ich ein paar Male von
Männern angesprochen, die meinen, sie wollten mich kennenlernen. Ich
bin meist freundlich abwehrend, nur im Dunkeln werde ich ungehalten
und antworte in pissigem Ton auf Deutsch. Beides zeigt seine Wirkung.
Was noch? Ich ärgere mich über die
Angestellten im Hotel, weil sie sich nicht an Absprachen halten, die
Kreditkarten-Maschine nicht funktioniert und eine Rezeptionistin mir
mehrfach mit der Rechnung auf die Nerven geht. Ich treffe mehrere
tunesische Kollegen, die mich mit ihrer menschlichen Wärme, ihrer
Effizienz und ihrem Wissen beeindrucken. Ich bin irritiert von einem,
der mir zweimal sagt, er habe einen Termin außerhalb der Stadt und
könne sich deshalb keine Zeit für mich nehmen, und den ich danach
an verschiedenen Stellen in der Stadt treffe. Ich fühle immer noch,
dass Angestellte von Botschaften in einer anderen Welt leben als ich
und die meisten anderen, was nicht heißen soll, dass die Leute, die
ich hier kennengelernt habe, unsympathisch waren.
Eine Freundin erzählt mir, wie durch
und durch verfilzt die tunesischen Strukturen sind, wie ineffizient
die tunesische Industrie und restliche Wirtschaft arbeiten, wie wenig
Platz für Qualität, Kreativität und Wettbewerb es gibt. Ich höre
zu und vergleiche immer noch. Dass es hier keine McDonalds-Filialen
gibt, finden wir beide eigentlich begrüßenswert. Denn ein Tunesien,
in dem ein Besuch bei McDonalds ein Zeichen von Status und Wohlstand
ist wie wir es aus Ägypten kennen, wünschen wir uns beide nicht.
Und die aus den USA importierten Neonreklamen im Stadtbild von Amman
haben mich schon 2007 irritiert. Vieles von dem, was sie über
Tunesien sagt, erinnert mich an Erfahrungen in Kairo. Ihrer Meinung
nach verstärkt die geringe Größe der tunesischen Bevölkerung
negative Entwicklungen wie die Dominanz vieler Bereiche durch
Familienstrukturen. Vielleicht verstärkt dieser Umstand auch
positive Entwicklungen, sie ist voll des Lobes für die Wahlbehörde.
Ich komme sicher nochmal hierher. Ich bezweifle aber, dass ich dann schon mehr Antworten im Gepäck habe.