Montag, 27. August 2007


Mein Bruder wirft sich auf mich zum Abschied. Ich bin längst nicht wach. Hatte mir doch gerade erst fünf weitere Minuten Schlaf erbeten. Er trägt den sauberen Blaumann, den ich gestern im Bad entdeckt hatte. Ich schaue ihm nach, koche dann Instant-Kaffee, packe die Reste, dusche. Lese die 15 Goldenen Regeln seiner Schreibschule und schreibe ihm eine der Karten, die ich aus dem Internetcafè mitgenommen hatte.

Die rollende Tasche ist perfekt, auch wenn ich sie ehrlicherweise nicht allein ins Gepäcknetz befördern kann. Ich hab’s versucht! Wenn jetzt nicht doch noch was reißt, war sie ein guter Kauf. Der Daumen ist abgeschwollen, seitdem ich die Stelle mit einer Injektionsnadel aufgestochen habe. Die Nadeln stammen noch von unserer Reise in den Jemen. Für den Fall der Fälle, der dummen Zufälle, der schlimmen Unfälle, hatte uns ein Mediziner gesagt, sei es doch in Ländern mit schwacher medizinischer Infrastruktur sinnvoll, eigene Nadeln dabei zu haben. Das leuchtete uns ein. Dabei hatten wir das Päckchen mit Nadeln und Infusionsschläuchen natürlich trotzdem nicht immer. Meinen Daumen jedenfalls zieren jetzt zwei harte Stellen mit jeweils einem roten Punkt in der Mitte. Interessiert das jemanden?

Im Leipziger Bahnhof frage ich nach meinen Rückfahrmöglichkeiten. In einer fremden Sprache hätte es sicher länger gedauert. Ich kenne den Bahnhof, habe ihn wieder kennen gelernt und bin doch immer wieder überwältigt von seiner Größe. In der Bahn liegt ein Leseexemplar einer lokalen Tageszeitung. Netter Service. Die Lektüre, die sich ja doch meist in der Kenntnisnahme der Überschriften erschöpft, reicht gerade aus bis zum Heimatdorf meiner Großmutter.

Mein Opa steht schon am Bahnsteig, rauchend, in Jogginghosen. Wie steigen in den alten Renault. Ich brauche mich doch nicht anschnallen, protestiert er, als mein Gurt, ohne dass ich darüber nachdenke, einrastet. Er fährt sicherer als beim letzten Mal. Das alte Haus trägt frisches Grün, schon seit dem vergangenen Jahr. Im Untergeschoss hat in diesem Sommer einer der Nachbarn renoviert. Die Türrahmen sind wieder weiß, in der kleinen Stube rankt Efeu auf der Tapete. Darauf die alten Bilder, fast verblichen, eines mit Wasserflecken. Ich gewöhne mich langsam an den Anblick der Schrankwand in der guten Stube, dem großen Wohnzimmer, die die schweren, dunklen Holzschränke ersetzt hat, an denen ich mich beim Laufen lernen hochzog. Selbst das Bad sieht nicht mehr so aus, als würde das Wasser nur so durch die Wände rinnen.

Ich gehe Blumen schneiden für meine Mutter. Zupfe ein paar alten Blüten von ihrem Grab und dem meiner Oma. Beide sind übervoll mit lebendigen Blüten und Blättern, frische Blumen stehen in den Vasen. Täglich geht mein Opa seine Runden; hier Blumen gießen gehört dazu. Ich harke den Sand in gerade Linien, das scheint er schon länger nicht mehr getan zu haben. Sonst ist nichts zu tun.

Die Nachbarn haben einen neuen Bruno, vier Monate alt und wie einem Whiskas-Werbespot entsprungen, in hellem Grau und tiefem Schwarz getigert. Er kommt sofort als ich ihn rufe, rauft und lässt sich auf dem Arm herumtragen. Süßes Biest. Der Verkehr auf der Straße vor dem Haus ist wie immer stark.

Ein potenzieller Nachmieter ruft an. Ich telefoniere wegen einem Interviewtermin, lese in meinem Jordanien-Buch. Meine Tante ruft an und ist hörbar irritiert, dass sich eine junge Fraustimme unter dem Anschluss ihres Vaters meldet. Der Fernseher ist überlaut. Mein Opa dreht ihn zwar leiser, wenn ich ihn darum bitte. Doch kurze Zeit später ist er wieder auf gleicher Lautstärke. 83 Jahre ist er alt, seit anderthalb Jahren allein und „es schmeckt wieder“, wie er am Vorabend am Telefon sagte. Ich wünsche, es sei mehr als ein vorübergehendes Aufflackern von Lebenslust.

Die Wörter für „die Mitte von etwas“ im Deutschen, Englischen und Arabischen: Kern, core, ukr.