Dienstag, 12. April 2016

Nebensachen aus Tunis:
Ich suche einen Platz an der Sonne, mit Tisch und Stuhl und jemandem, der mir Kaffee bringt. Ich laufe ein paar Meter die Straße hoch, es ist schon spät, die Sonne wird nicht mehr lange scheinen. Auf der anderen Seite der Straße ist ein Café, ein paar Tische sind besetzt, einige Sonnenplätze noch frei. Tische und Boden wirken so sauber wie sie in einem Straßencafé am späten Nachmittag sein können. Die Musik spielt leise, die Gäste sind nicht still, aber auch nicht zu laut.
Da ist natürlich wieder einer dieser Typen, a random guy, der an einem der vorderen Tische sitzt, die Straße im Blick, und mich anspricht als ich Kurs auf meinen Platz für die nächsten zwei Stunden nehme. Ob ich Spanierin sei, will er wissen. Sein Lächeln ist ein Grinsen. Er überrascht mich, denn er ist mindestens 20 Jahre älter als ich, jedenfalls sieht er so aus, und ich hätte nicht im mindesten mit einer Anmache ausgerechnet aus dieser Richtung gerechnet. Ich hatte nur einen alten Mann im Café gesehen. Aber er besteht darauf, mich darauf hinzuweisen, dass er an mir interessiert ist, an meinem Körper jedenfalls, mein Kopf würde ihm sicher schnell zu anstrengend.
Ich verneine, denn ich ignoriere nicht gern, und suche mir meinen Weg zwischen den Tischen. Bestelle Kaffee und beginne meine Papiere auf dem Tisch auszubreiten. Die Sonne wärmt mich, es dürfte ein bisschen weniger Verkehr sein, ich beobachte die Passanten.
Eine Frau, Mitte, Ende vierzig, sie ist ein bisschen übergewichtig und ihr Oberteil sitzt etwas zu eng, rot gefärbte Haare. Sie läuft mit einem etwa zwölfjährigen Jungen vorbei und spricht mich an. Ich verstehe nicht gleich, was sie sagt. Sie wiederholt: „C'est mixte?“ Ich brauche noch einen weiteren Moment bis der Groschen fällt. „Das weiß ich nicht“ und „Ich bin hier zum ersten Mal“ antworte ich, während ich mich umsehe und das Geschlecht der Gäste an den anderen Tischen mit der Frage abgleiche. Der erste Satz klappt noch auf Französisch, der zweite rutscht auf Arabisch raus.
Ich habe immer noch Schwierigkeiten, die beiden Sprachen zu trennen. Immerhin geht es mir nicht mehr so wie in Jordanien als ich inmitten einer französischen Reisegruppe saß und nicht mal mehr „Wie geht’s?“ und „Ich heiße“ auf Französisch sagen konnte, weil sich immer die arabischen Wendungen davor schoben.
Sie nickt, lächelt seltsam, geht weiter. Ich schaue mich nochmals um. Der Typ von vorhin möchte immer noch Kontakt aufnehmen. Ich nehm es zur Kenntnis und wende mich den kleinen Papierstapeln vor mir zu. Aber es bleibt ein unangenehmes Gefühl.
Und ich denke, bevor ich mich ganz in die Texte vor mir vertiefe, dass wir uns oft selbst gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Statt Solidarität äußern wir Warnungen und Tadel. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass dieser Platz nicht für mich bestimmt sein könnte. Sie hat mich auf Grenzen hingewiesen. Und erst ihr Hinweis machte diese Grenzen für mich real, sichtbar, fühlbar, beschränkend. Sie hatten für mich zuvor schlicht nicht existiert. Ich hatte an diesem Ort, zu dieser Zeit keinen Gedanken daran verschwendet, dass es ein reines Männercafé sein könnte. Obwohl ich wusste, dass es solche gibt.
Eine Frau schränkt mich ein, verweist mich auf meinen Platz und betont mein Geschlecht. An einem Ort, der für mich rein gar nichts sexuelles hatte. Und an dem ich jetzt Gäste und Kellner misstrauisch mustere.
Als ich wieder auftauche, ist die Sonne hinter den Bäumen verschwunden, der Verkehr noch ein bisschen stärker geworden. Der Typ am Tisch an der Straße ist weg, dafür sitzen drei Tische weiter eine Frau mit einem Mann und in der Mitte eine sehr junge Frau mit Kopftuch allein.
Ich gehe, und während ich durch die Ruhe der Seitenstraßen wandere, frage ich mich, warum die Frau mich angesprochen hat. Wollte sie mich warnen? Oder auf meinen Platz verweisen? Oder hat sie einfach nur überlegt, sich ebenfalls zu setzen?
Wenn sie mich warnen wollte, dann warum? Denn der Platz war ganz offensichtlich nicht gefährlich. War es eine ganz generelle Warnung, weil ich zu unbeschwert wirkte? Hat sie hier schlechte Erfahrungen gemacht? Ich komme nicht weiter, kann das Rätsel nicht lösen. Auch eine Erklärung ihres mutmaßlichen Bedürfnisses mich zu maßregeln kann ich nicht finden. Und die Tatsache, dass ich dort saß, war doch bereits Antwort auf ihre mögliche Frage, ob sie dort sitzen könne.
Warum hat sie mich angesprochen? Warum der Hinweis auf die Geschlechtertrennung? An eine ihr wildfremde Frau, an einem keineswegs konservativen Ort.
Ich verstehe es nicht. Nicht wirklich.
Auch wenn ich weiß, dass Frauen für die Aufrechterhaltung des Patriarchats, also mithin eines ungesunden Geschlechterverhältnisses, eine entscheidende Rolle spielen. Aber ich weiß es nur in der Theorie. Die Frauen meiner Familie entsprachen nicht alle der gängigen Erwartungshaltung, auch wenn viele von ihnen typische Berufe ergriffen, geheiratet und Kinder bekommen haben.
Ich weiß von den Tanten, die ihre Nichten festhalten, wenn der Mann oder die Frau mit dem Rasiermesser kommt. Ich habe selbst erlebt wie ein kleiner Junge von der gesamten Familie positiv dafür verstärkt wurde, dass er auf der Straße Frauen angemacht hat wie er es von Papa kannte. Ich war froh zu hören, dass arme Familien in Amman begreifen, dass ihre Töchter auf dem Heiratsmarkt bessere Chancen haben, wenn sie zumindest Lesen und Schreiben können, und todtraurig zugleich über den Fakt, dass man sie darüber aufklären, sie überzeugen muss davon, dass auch ihre kleinen Mädchen zur Schule gehen wollen, obwohl es doch eigentlich einfach nur ihr gottverdammtes Recht ist.
Ich hatte das große Glück in einem Staat aufzuwachsen, in dem es offizielle Linie war, dass Frauen das Gleiche leisten können wie Männer. Ich habe in der Schule nie gehört, dass ich diesen oder jenen Beruf nicht ergreifen könne, weil ich ein Mädchen bin. Ich habe mit meinen Klassenkameraden, Jungen und Mädchen, gelernt, wie man Werkzeuge benutzt. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich beim Handarbeiten talentierter war. Missverstehen wir uns nicht! Das Glück, dass dieser Staat aufhörte zu existieren und ich nicht hinter seinen Mauern eingesperrt blieb, ist vermutlich noch größer.
Ich bin wirklich nicht sicher, welches Glück das größere war. In beiden Fällen wurde ich von Grenzen befreit, bekam zumindest das Gefühl, dass Grenzen überwindbar und im besten Fall nicht existent sind.
Das eine fremde Frau mich in aller Öffentlichkeit darauf hinweist, dass ich eine Frau bin und somit keinen unbeschränkten Zugang zu öffentlichen Orten habe, lässt mich ratlos. Es bleibt ein Unbehagen in der Magengegend, das mich noch Tage später immer wieder drückt und zwickt.
Ya Madame, das war wirklich nicht nötig!