Montag, 28. September 2015

Ich kann gar nicht so viel schreiben, wie ich denke. 
Ich will einen Brief schreiben über die Angst. Sie ist mir in einer Parallelwelt begegnet, zu der ich zufällig Zugang habe, über ein Facebook-Konto. Ich wundere mich oft über die Dinge, die ich dort lese. Aber ich agiere dort nicht als die Person, die ich bin, sondern für einen Verein. Ich kommentiere nur und klicke den Daumen nach oben für alles, was mit dem Verein zu tun hat. Alles andere lese ich nur. Und wundere mich, oft.
Da war dieser Brief. Ich habe heute sicher eine halbe Stunde nach ihm gesucht und konnte ihn nicht finden. Fand stattdessen andere Posts, die hassten und hetzten. Traf Missverständnis, Unverständnis, Unwissen, ich kann es gar nicht genau benennen. An „und wenn ich jetzt noch einmal jemanden vor dem Bahnhof klatschen hören“ kann ich mich noch erinnern und daran, dass ich dieses Klatschen selbst als unangenehm empfand. Genau wie das Filmen und Veröffentlichen der Aufnahmen von wildfremden Leuten, die noch immer auf der Flucht waren, ohne zu wissen, vor wem oder was sie eigentlich fliehen. Weil Facebook oder Twitter oder wie sie alle heißen für alle da sind, für die Helfer vorm Bahnhof genau wie für die irren Extremisten und das mörderische Regime, egal welchen Namen sie jeweils tragen.
Ich las und dachte weiter, ob nicht aber dieses Klatschen vor den Bahnhöfen, das spontane Umarmen, diese unsäglichen Grenzüberschreitungen an manchen Stellen nur eine Antwort waren. Auf das Unbehagen, dass die meisten (?) von uns ergriffen hat, als vor wenigen Monaten Pegida, Legida,… und der rechte Rand der AfD ihr hässliches Haupt erhoben, die Fäuste schüttelten, sich sammelten. Auf den Schreck darüber, dass wieder Häuser brannten, mit Menschen darin.
Das wollten wir nie wieder erleben, nicht wahr?
Das ist, wovor ein großer Teil dieser Menschen flieht. Einstürzende Häuser. Geräusche der Gewalt. Ich kann sie mir nicht ausmalen, bin froh darüber.
Der Brief war an Angela Merkel gerichtet und er war voller Fragen.
Auf die meisten davon würde ich auch gern eine Antwort von ihr hören: Wie soll es weitergehen? Wer soll das leisten? Wer soll es bezahlen? Wie verhindern wir Probleme? Letzteres meint: Terroristen des so genannten Islamischen Staats, die sich zwischen Flüchtlingen tarnen, Kleinkriminalität, Bandenbildung, was man sich halt so vorstellen kann.
Für ein paar habe ich selber Antworten.
Die Sache mit dem Geld, das muss vermutlich selbst Wolfgang Schäuble einsehen, ist unumgänglich. Integration kostet. Die Bundesrepublik hat es schon mehrmals versäumt, vergeigt, versaut. Es wäre an der Zeit, es richtig zu machen. Für die richtigen Schritte von Seiten der Politik zur rechten Zeit, würde ich Sie, liebe Angela Merkel, vermutlich immer noch nicht wählen. Wegen der grauen Männer hinter ihnen. Aber es muss schließlich auch Menschen geben, die Opposition wählen. Wie langweilig wäre das Leben ohne Querdenker, Fragensteller, Romantiker?
Wie soll es also weitergehen, schreibt fragend ein Mensch. Und ein anderer teilt es, weil er es ebenso wissen will. Beide weisen weit von sich, dass sie rechts oder braun oder sonst irgendwie radikal sind. Und ich bin bereit, ihnen das zu glauben.
Ich fürchte nur, dass sie zu den Rattenfängern überlaufen, wenn sie keine Antworten erhalten. Deshalb bitte, liebe Angela, erste Frau im Kanzleramt, geben Sie Antworten. Ich bewundere durchaus, wie Sie sich halten, da im Haifischbecken, auch wenn ich mir manches Mal wünschte, Sie würden sich mehr bewegen. Aber das ist vielleicht, vermutlich, wahrscheinlich wirklich schwieriger als ich mir das vorstelle. Der Friedensnobelpreispräger auf der anderen Seite des großen Teichs kriegt's ja auch nicht richtig hin. Ich unterstelle Ihnen den Willen, es diesmal anders zu machen. Weil ich mir wünsche, dass Sie ihn haben. Antworten Sie den Leuten, bedenken Sie die Konsequenzen, seien Sie ehrlich, realistisch, pfeifen Sie auf die Phrasen.
Die Integration jedenfalls können nur wir leisten. Wir, die wir hier leben. Wir dürfen die Menschen, die da jetzt ankommen, nicht alleine lassen. Wir haben Sie Willkommen geheißen. Sie werden bleiben.
So wie die Polen geblieben sind, die Italiener, die Türken und all die anderen, die ja manchmal wirklich nur für kurze Zeit ihr Land verlassen wollten und dann bis an ihr Lebensende blieben und Kinder hinterließen, Enkel. Manche von ihnen tragen schwer an ihrem doppelten Erbe, andere verwandeln es in Magie, manche tun beides.
Oder glaubt wirklich jemand, dass sich der Krieg in Syrien und dem Irak in drei Jahren beenden lässt? Das ist der Zeitraum, währenddessen Menschen in Deutschland bleiben dürfen, wenn sie Asyl erhalten. Erst nach diesen drei Jahren besteht die Möglichkeit einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung. Für die, die aus Aleppo, Damaskus, Mossul geflohen sind, wird die Gefahr in drei Jahren nicht gebannt sein. Auch nicht für manche, die aus Ägypten fliehen, denn der Wind in Nordafrika bläst frostig gegen jede Stimme, die ihre Rechte einfordert, nachfragt, anderer Meinung ist. Um nur ein Beispiel zu nennen. Und kann ich es wirklich Menschen verdenken, dass sie aus ihrem Land fliehen, weil die lokale Landwirtschaft von subventionierten Importen aus Groß-West zerstört wurde?
Ein Teil bleibt also, vermutlich der größerer Teil. Sie werden unsere Nachbarn, denn wir haben doch gelernt, dass Ghettos keine gute Idee sind. Haben wir doch, oder? Auch dann nicht, wenn man sie Stadtrand, sozialer Wohnungbau oder Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf nennt.
Keine Ghettos also. Ihre Kinder gehen mit unseren zur Schule. Vielleicht verlieben sie sich, gründen neue Familien, wandern irgendwann zurück. Was für spannenden Lebensläufe daraus werden könnten. Wenn wir Frieden schaffen können.
Auch ich will meine Wohnung nicht teilen und gehe davon aus, dass das nicht nötig wird. Ich schlage innerlich die Hände über dem Kopf zusammen bei der Nachricht, dass eine deutsche Behörde einer alleinerziehenden Mutter und weiteren Nachbarn die Wohnung gekündigt hat, weil sie in dem Haus Flüchtlinge unterbringen will. „Herr, lass Hirn vom Himmel regnen“ möchte ich rufen und tue es nicht, weil ich nicht allein im Büro sitze und das Radio so leise läuft, dass nur ich die Nachricht höre. Dass im Internet das Foto einer Jobanzeige für Putzkräfte in einem Flüchtlingsheim mit der Unterschrift „Unglaublich!“ zirkuliert, finde ich beunruhigend.
Was ist so seltsam daran, dass in einem Flüchtlingsheim Putzkräfte gesucht werden? In jedem verkackten Bürokomplex gibt es Menschen, meist Frauen, die den Dreck der anderen wegputzen. Weil es nämlich eine erstaunliche Anzahl von Leuten nicht schafft, ihren verschütteten Kaffee, ihr verlorenes halbes Brötchen, dessen Tüte oder ihr vollgerotztes Taschentuch wieder aus Flur, Treppenhaus, Hauseingang zu entfernen. Von den Krümeln und Schuppen und was mensch halt eben sonst noch so den ganzen Tag über oft unbemerkt verliert, wollen wir hier gar nicht erst anfangen. Sollen die Flüchtlinge selbst putzen? Sollen es die Ehrenamtlichen tun?
Ich glaube an ehrenamtliche Arbeit, daran, dass man seine Zeit anderem widmen kann als Arbeit, Familie und Vergnügen. Zumal Ehrenamt ganz oft Vergnügen sein kann. Das Instand- und Sauberhalten von staatlich betriebenen Immobilien sollte aber ganz sicher niemand ehrenamtlich tun müssen. Denn das hieße, dass es sonst gar nicht getan würde. Das wäre ein Versagen des Staates, schlicht und ergreifend.
Die Flüchtlinge also? Vielleicht. Aber erst wenn sie angekommen sind. Das sind die meisten von ihnen noch nicht. Und damit meine ich nicht die Menschen, die sich gerade erst auf den Weg gemacht haben, Polizeisperren, Tränengas und Wasserwerfer umgehen, Zäune überwinden, weiterhin auf Autobahnen ausgesetzt werden. Ich meine damit, dass die meisten derjenigen, die sich dieser Tage in den vielen überstürzt eingerichteten Heimen sammeln, gerade erst ihren Körper hierher gerettet haben. Die Seele vieler von ihnen ist noch damit beschäftigt, die Erlebnisse der Flucht zu verdauen.
Sie sitzen in Gruppen in alten Schulen, Kasernen, Turnhallen und warten darauf, dass es weitergeht. Sie stehen in Schlangen, bekommen keine Antworten, sehen andere kommen und gehen, die auch nicht wissen wohin und warum. Und sind in Sorge. Um ihre Liebsten, die sie zurücklassen mussten. Weil die Flucht zu anstrengend, zu teuer, zu riskant geworden wäre, wären sie gemeinsam gegangen. Telefonieren jeden Tag, denn ja, auch im Sudan oder dem Kongo kann man Mobiltelefone kaufen, genaugenommen hätten wir selbst keine Mobiltelefone, jedenfalls nicht so billig, gäbe es den Kongo und seine Minen nicht. Hören von Schüssen, Toten, Angst. Hören Fragen nach der Zukunft. Und wissen selbst keine Antwort.
Die glücklich Geflüchteten werden selbst putzen, wenn sie eine dauerhafte Bleibe, eine eigenen Wohnung, zumindest ein eigenes Zimmer gefunden haben. Und in wie vielen deutschen Wohnhäusern putzt eigentlich eine Putzfrau den Flur, weil die Herrschaften Nachbarn es selbst nicht geregelt kriegen – und ich bin da keine Ausnahme, sondern zutiefst dankbar, dass ich den Flur nicht feudeln muss. Mir war bis gerade eben gar nicht klar, wie wütend dieser eine Post mich gemacht hat...
Ich denke und denke, höre Nachrichten aus Ungarn, einen Journalisten über Syrien sprechen, denke an Griechenland, frage mich, was in der Ukraine gerade los ist.
Wenn wir einen Staat haben wollen, dann müssen wir Steuern zahlen. Daran führt kein Weg vorbei. Staat kostet Geld. Straßen, Schulen, Hilfe für Menschen, die gestolpert sind und sich selbst nicht fangen können, Schutz brauchen, nicht Druck. Und ja, auch für das Gewaltmonopol gegenüber denen, die gegen die Regeln verstoßen, nicht mal die zehn Gebote einhalten können oder Artikel eins des Grundgesetzes.
Ich sehe ein Problem, wenn die Steuerlast nicht gerecht verteilt ist. Ich glaube, sie ist es nicht. Wenn Menschen so unglaublich reich sind, dass Kleider oder Taschen auch gerne mal mehrere hundert Euro kosten können. Und währenddessen, in einer Parallelwelt, lässt sich ein Mensch, der jeden Tag am frühen Morgen aufsteht und erst am frühen Abend von der Arbeit nach Hause kommt, seine Überstunden nicht mehr auszahlen, weil sie fast komplett von der Steuer gefressen würden, und kann sich aus demselben Grund auch nicht wirklich darüber freuen, dass seine Gewerkschaft eine kleine Lohnerhöhung verhandelt hat.
Es war nur ein Nebensatz in einem Zeitungsbericht, ich glaube die Süddeutsche, gelesen beim Essen und höchstwahrscheinlich von mir mit einem Soßenfleck verziert, aber ich frage mich seitdem immer mal wieder: Warum hat der IWF der griechischen Regierung verboten, die Gewerbesteuer zu erhöhen, wenn meine Freunde den neuen (?) griechischen Linken vorwerfen, dass sie ihre Regierungsgewalt nicht dazu nutzen, endlich die griechischen Reeder vernünftig zu besteuern?
Eine Kollegin wollte kürzlich von mir wissen, ob ich Kommunistin bin. Zuvor hatten wir zu dritt über die Verteilung von Kapital in der Gesellschaft diskutiert. Wir waren uns einig, dass wir in keiner gerechten Welt leben. Das Startkapital unterschiedlich verteilt ist und damit die Chancen. Sie wollte das Erben abschaffen und stattdessen ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Wir waren skeptisch, führten die menschliche Natur an, deren Hang zu Müßiggang, ihr Bedürfnis, die Zukunft der eigenen Liebsten zu sichern, die merkwürdigen Eigenheiten von Macht und Geld, die immer mehr verlangen, je mehr sie sich ansammeln. Dabei wäre, das hatte die Kollegin gut erkannt, die Zukunft der Liebsten, der Kinder und Enkel, weniger in Gefahr, wenn das Leben aller gesichert wäre. Nur, das ist nicht allein eine Frage des Geldes.
Ist eine andere Welt möglich?
Ist es möglich, dass die Menschen, die Briefe voller Fragen stellen, aufstehen, rausgehen und nebenan bei den neuen und den alten Nachbarn schauen, was so passiert? Dass sie den Fernseher mal auslassen, denn das Programm ist eh meist nur schlecht für's Gemüt.
Wir sind alle gefragt, nicht nur heute, sondern auch morgen. Wir müssen nicht jeden Tag helfen, das wäre wirklich zu viel verlangt. Und manchmal können wir auch einen ganze Zeit lang nichts anderes tun, als um uns selbst zu kümmern. Müssen unser eigenes Leben leben, mit allem was uns lieb und teuer ist.
Aber unser Leben ist reicher, wenn wir nicht hinter Mauern leben. Wenn unsere eigenen vier Wände Fenster haben und Türen, durch die man nach Belieben herausspazieren kann. Eine Mauer ist keine Lösung. Niemals. Das wissen wir doch. Oder nicht? Denn es liegt doch auch in der menschlichen Natur, Mauern zu überwinden.
Ich will nicht hinter Mauern leben. Ich will in einem Haus leben, mit einer Straße davor, an der Bäume stehen, in denen Vögel leben. Ich will nicht meinen Personalausweis zeigen, wenn ich nach Hause will, weil ich gerade erst frisch eingezogen bin oder der Wachmann neu ist. Ich will keine Welt der Angst, nirgends. Mich hinter Mauern verstecken zu müssen, macht mir Angst.
Wir leben hier im Paradies, das hat selbst der ungarische Präsident erkannt. Dass er die Realität anders sieht als ich, ist natürlich. Genau wie die Tatsache, dass in Fernsehnachrichten kein differenziertes Bild der tatsächlichen Verhältnisse in der Welt gezeigt werden kann. Ich fand es vor allem traurig, dass Orban ein solch trostloses Bild von seinem eigenen Land zeichnete, dass er selbst mit seinen Worten ein Land beschrieb, in dem niemand bleiben wolle, das nur zur Durchreise gut sei, keine Perspektiven biete. Und hatte die kurzen Nachrichten von Freunden im Kopf, die von helfenden Händen überall entlang der Straßen Europas berichteten, serbischen, kroatischen, rumänischen, ungarischen. Und erinnere mich, wie ich mit ärgerlicher Irritation realisierte, dass es vor allem deutsche Hände waren, die sich in meinem Feed drängten, obwohl beides gleichzeitig stattfand. Und ich denke seit einigen Tagen immer wieder, dass ich Flüchtlingsorganisationen in Südosteuropa finden müsste, Geld sammeln und schnellstens hinschicken, denn der Winter kommt und die Zäune stehen, vor und hinter ihnen Polizisten und Soldaten, und Mauern werden gebaut werden. Denke noch ein bisschen weiter und weiß, dass auch in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, in ganz Nordafrika das Geld fehlt, um die Menschen zu versorgen, die in Flucht ihre einzige Hoffnung auf Zukunft sahen. Und weiß auch, dass die Lebensmittelrationen in den dortigen Flüchtlingslagern der so genannten Vereinten Nationen – die offensichtlich alles, aber nicht sich einig sind – gekürzt wurden, täglich weitere Menschen ankommen, dort keine Zukunft, sondern enttäuschte Hoffnungen finden. Stattdessen liefern wir Waffen nach Afrika, getarnt als militärische Hilfen gegen Islamisten. Die Islamisten gibt es, ich will es nicht abstreiten. Das könnte ich nicht und wäre ich noch so betrunken oder auf sonst irgendwelchen Drogen.
Die Frage ist doch: Warum gibt es sie? Und die Antwort ist weder eine einzige Antwort noch einfach.
Und wirksam gegen sie vorgehen können wir nur – und das wollen wir doch, oder? – wenn wir wissen, warum es sie gibt. Warum diese Menschen sich dafür entscheiden, andere Menschen umzubringen, alles zu verbrennen, was sich anzünden lässt, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, zu glauben, dass andere Menschen weniger Würde haben als sie selbst und sie selbst deshalb das Recht haben, ihnen das Leben zu nehmen, Gewalt anzutun, sie zu verkaufen, zu versklaven.
Ist es das Gefühl, selbst keine Würde zugestanden bekommen zu haben? Irgendwann einmal, in ferner oder naher Vergangenheit, vielleicht aufgetürmt über Generationen? Und sich jetzt dafür rächen zu können, an allem was schwächer ist oder weniger schnell, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen, im Namen eines Höheren.
Nicht zu vergessen die, die gezwungen werden. Weil sie als Kinder gefangen werden. Oder zu arm sind, um ihre Heimat zu verlassen. Sich dort nicht verstecken können, bedroht werden, sehen wie Freunde, Verwandte ihr Leben verlieren, weil sie „Nein“ sagen, den falschen Menschen anschauen, Teil einer Drohgebärde werden, einfach nur im falschen Moment an eben diesem Ort stehen und gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Ja, eine Flucht kostet Geld. Das haben die Briefeschreiber ganz richtig festgestellt. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, woher ein Flüchtling das Geld hat, mit dem er seine Flucht bezahlt. Er muss es nicht von Terroristen genommen und seine Seele verkauft haben. Er könnte den Schmuck seiner Frau, Mutter, Schwestern verkauft haben, das letzte Vieh, den Generator, das Auto. Er könnte ein gut gehendes Geschäft gehabt und das Geld von der Bank geholt haben, bevor es zu spät war – eine kleine Fliesenmanufaktur, eine Herrenschneiderei, einen Fuhrpark. Vielleicht hat seine Familie zusammengelegt und ihn auf die Reise geschickt, vielleicht ihm aus der friedlichen Diaspora Geld nach Istanbul geschickt, damit er die Schlepper bezahlen kann.
Wen würde man losschicken, wenn man weiß, dass die Reise beschwerlich wird, gefährlich und schmutzig? Die Tochter oder den Sohn? Wer übersteht eher eine Schlägerei? Wer muss eher mit Vergewaltigung rechnen? Beantwortet das die Frage danach, warum es so häufig junge Männer sind, die in diesen Tagen hier ankommen? Junge Männer, die allein losgezogen sind, weil sie wendig, ausdauernd und gesund sind. Natürlich sind vor allem sie es, die durchhalten und ankommen, neben den ebenfalls nicht so alten Männern, die ihre jungen Familien retten wollen, auf dem Arm ein Kind und an ihrer Seite ihre Frau.
Und bevor sich eingeschränkte Leser*innen in ihrer Meinung von mir bestätigt fühlen, dass Männer eben doch mehr wert sind als Frauen, noch ein Hinweis: Aus einem anderen perspektivlosen Osten, dem Osten Deutschlands nämlich, verschwinden vor allem die jungen Frauen und suchen sich eine neue Zukunft anderswo, während mehrheitlich junge Männer sitzen bleiben, vielleicht sogar in Mamas Wohnzimmer, sich langweilen und auf komische Ideen kommen. Ich kenne welche davon. Erzählt mir nix! Ich weiß auch, dass solche Menschen überall sonst sitzen, sich in Selbstmitleid und Wut suhlen und sich ihrer Angst nicht stellen, sondern versuchen sie totzuschlagen.
Jedes Leben zählt.
Ich wünschte, das wäre wahr und nicht nur richtig.