Donnerstag, 2. Februar 2012

Mein Wunsch nach einer friedlichen Fortsetzung der Proteste und Reformen ist also nicht in Erfüllung gegangen. Ganz Ägypten ist schockiert über den tödlichen Ausgang eines Fußballspiels in Port Said, die online-Plattformen sind voll mit Wut und Trauer über die über 70 Toten und vielen hundert Verletzten.
Ich hatte mich gestern mit meinem Arabisch-Tutor getroffen und saß mit ihm und seinen Grammatikübungen bis kurz vor Mitternacht im Cafe. Auf dem Rückweg im Taxi kam ich an großen Gruppen von Männern vorbei, ernst schauend und still, an Stellen, an denen normalerweise keine Demonstrationen stattfinden. Erst da erfuhr ich, was früher am Abend passiert war. Der Taxifahrer war wütend, traurig und schockierend in seinen Rückschlüssen: "Unter Mubarak war alles besser, wir hatten Sicherheit, wir hatten Arbeit. Jetzt haben wir nichts mehr. Wo ist das Militär? Sie müssen uns doch schützen. Mubarak war so viel besser."
Zu Hause ging ich sofort online und schaltete den Fernseher ein. Von einer gezielten Attacke gegen die Fußballfans ist dort die Rede. Von der Verantwortlichkeit der Sicherheitskräfte und des Militärs, die nicht nur nichts gegen die Gewalt unternommen hätten, sondern diese durch ihre unüblich geringe Präsenz im Stadion geradezu befördert hätte. Von Augenzeugenberichten über bezahlte Schläger, die sich unter die Fans gemischt hätten. Von Opfern, die mit den Worten "Das ist dafür, dass ihr den Militärrat beleidigt" zusammengeschlagen wurden.
Der überwiegende Tenor: Das war keine normale Auseinandersetzung zwischen Fußballfans, die tragisch eskaliert ist. Das war Absicht, um den Fußball-Ultras eine Lektion zu erteilen.
Klingt schrecklich nach Verschwörungstheorie, nicht wahr?
Tatsache ist aber, dass die Fußballfans seit Beginn der Revolution (Egypt Independent) in Agypten vor einem Jahr eine tragende Rolle in der Verteidigung der Demonstrationen und Proteste gegen Polizei- und Militärgewalt (Interview 11Freunde Anfang 2011) gespielt haben. So waren es zum Beispiel in November 2011 vor allem die Fußballfans, die dazu beitrugen, dass die Protestbewegung den Midan Tahrir zurückerobern konnte, nachdem die Polizei das kleine Sit-In nach der großen Freitagsdemo relativ einfach hatte räumen können. Und Tatsache ist auch, dass die Fans - wie überall auf der Welt vor allem junge Männer - zum Beispiel in den Stadien der berühmtesten Clubs Ahli und Zamalak (beide Kairo) während der Spiele schon lange nicht mehr nur Fußballgesänge zelebrieren, sondern auch politische Slogans wie "Nieder mit dem Militärregime" übernommen haben. Und die werden dann im Rahmen der Live-Übertragungen des staatlichen Fernsehens in ganz Ägypten verbreitet.
Es gibt also in der Tat genug Gründe für das Regime gegen die Fußball-Ultras vorzugehen.
Und weiterer ist der gerade erst in der vergangenen Woche aufgehobene Ausnahmezustand - was man hätte feiern können, wäre da nicht erneut ein Hintertürchen offengehalten worden. Er kann wieder eingeführt werden in Situationen, in denen Raub und Verbrechen überhand nehmen. Absurd, aber wie es der Zufall will, haben erst gestern drei bewaffnete Raubüberfälle - ebenfalls ein bisher eher unübliches Phänomen in Ägypten - große Schlagzeilen gemacht.
Artikel von Egypt Independent, Foreign Policy. Die politische Debatte hat gerade erst begonnen, mit Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung sowie des Gouverneurs und der Untersuchung der Vorgänge sowie neuen Protestmärschen und Blockaden.

Von diesen schrecklichen Ereignissen abgesehen, scheint sich auch die restliche Lage nicht zu beruhigen. Bereits während der Freitagsdemo auf dem Tahrir gab es Auseinandersetzungen zwischen liberalen Kräften und den Muslimbrüdern. Die Brüder wollten die Errungenschaften der Revolution feiern, die Liberalen warfen ihnen den Verrat derselben vor. Diese Auseinandersetzungen gingen in den folgenden Tagen während Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude weiter, aber auch im Parlamentssaal weiter - dort allerdings nur verbal. Und auch auf die anhaltenden Proteste vor dem TV-Gebäude Maspiro gab es Angriffe.

Traurig und beunruhigend das alles zusammen.

Graffitti Downtown Kairo