Donnerstag, 13. September 2007


Der erste Tag Ramadan ist fast vorbei. Ich hatte Kekse gegessen, Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht, bevor ich zu Uni aufbrach. Trotzdem wurde mir zwischendrin flau; ich war vor allem durstig, aber auch hungrig und gierig auf eine Zigarette. Eine Kleinigkeit gegessen und getrunken hab ich dann heimlich auf der frisch gechlorten Toilette des Sprachzentrums – ein zweifelhaftes Vergnügen. Die Zigaretten mussten allerdings warten, bis ich gut sieben Stunden später wieder im Hostel war.

Statt dem erwarteten ersten Unterricht gab es eine Einführung im Hörsaal durch Tawfiq Omar, dem der klassische Fehler unterlief: Er hatte die Verbindung zwischen Beamer und Laptop nicht vor seinem Vortrag überprüft und natürlich funktionierte die Übertragung nicht. Die schönste Nachricht: Die Ausflüge nach Petra, Jerash, ins Wadi Rum etc. sind kostenlos; wir müssen lediglich die normalen Eintrittspreise vor Ort zahlen. Natürlich werde ich in der Studi-Horde nicht üben können, wie frau alleine reist und sich dabei auf Arabisch verständigt. Mir ist auch klar, dass derartige Gruppenreisen noch andere Haken haben können. Andererseits kann ich mir die wirklich tollen Sachen im Zweifel auch danach noch mal alleine (oder in Begleitung von Besuch aus der Heimat?) ansehen. Ich wäre doof, wenn ich das Angebot nicht nutzen würde.

Danach gab es eine kleine Führung über das Unigelände, bei der ich eigentlich nichts sah, was mir nicht schon vorher aufgefallen war. Immerhin weiß ich jetzt, welche Mensa für die Studenten ist. Ich wäre spontan in die für die Dozenten gegangen. Und ich habe einen Zettel von der Universität, der besagt, dass ich Arabisch studiere und dafür länger als einen Monat in Jordanien bleiben muss. Mein Visum gilt zwar für ein halbes Jahr, aber ich muss mich trotzdem bei der Polizei melden. Der Uni-Zettel wird dabei hilfreich sein. Um wirklich sieben Monate zu bleiben, muss ich das Visum zudem noch mal verlängern lassen. Ich hoffe sehr, dass das nicht zu kompliziert wird.

Ein paar von uns sitzen danach noch eine Weile im Sprachzentrum, reden und surfen. Ich leihe einer Kalifornierin meinen Laptop, damit sie ihrer Familie ein Lebenszeichen geben kann. Es gibt zwar auch einen Computerraum im Untergeschoss, aber der ist abgeschlossen, weil der Verantwortliche in den Flitterwochen ist. Sie hat mir schon gestern von ihrem Appartement vorgeschwärmt und erzählt, dass noch einige Zimmer frei sind. Ich telefoniere mit dem Sohn der Familie und melde mich an. Plötzlich beginnen sich zwei Männer zu schubsen. Sie wirken deutlich älter als ich und tragen Anzüge; wir sind nicht sicher, ob es Spaß ist oder nicht. Es endet mit beiden auf dem Boden, einer im Schwitzkasten, ein Haufen anderer Männer drum herum. Der Sicherheitsmann aus dem Erdgeschoss trennt die beiden.

Lauren from California zeigt mir den Weg zu meiner künftigen Bleibe. Das Haus ist deutlich näher als mein Hostel. Obwohl Enrique und ich für fünfzehn Minuten später verabredet sind, empfängt uns nur seine Mutter und sagt, dass er gerade schläft. Später wird er sich entschuldigen und erklären, dass schlafen die einzige Möglichkeit sei, den Tag durchzustehen – ohne zu essen, zu trinken, zu rauchen. Wie er zu seinem Vornamen kommt, muss ich bei der nächsten Gelegenheit fragen. Wir sitzen im Wohnzimmer und warten auf ihn. Lauren spricht schon deutlich besser Arabisch als ich, ich höre zu und freue mich über jeden Satz, den ich verstehe.

Das Zimmer ist ein Schlauch – vorne eine Küchennische mit Tisch und Stühlen, hinten Schrank und Bett, außerdem das Bad. Alles wirkt schon etwas älter, dafür ist der Preis unschlagbar – 200 Dinar pro Monat inklusive Internet. Außerdem kriege ich einen neuen Teppich, der Staubsauger steht schon unter der Spüle. Heizen und kochen werde ich mit Gasflaschen, die Stromrechnung kommt auch noch zur Miete dazu. Enrique spricht von zehn bis fünfzehn zusätzlichen Dinar im Monat.

Ich hatte schon vorher gelesen, dass die Preise in Amman deutlich gestiegen sind – unter anderem wegen der vielen Flüchtlinge aus dem Irak. Die Jordan Times berichtete bisher jeden Tag, den ich hier bin, von Appellen des Königs, die Preise für Lebensmittel zu senken oder zumindest nicht weiter anzuheben. Tatsächlich bewegen sich die Preise für Gemüse, Nudeln oder Milch fast auf deutschem Niveau. Verdammt teuer für ein Land, für das ich ein Stipendium bekommen habe, weil es als Entwicklungsland gilt. Ich hoffe, mein Erspartes reicht aus, bis das Geld von der Heinz-Kühn-Stiftung kommt, und frage mich ernsthaft, wie der durchschnittliche jordanische Arbeiter mit einem Monatsgehalt von um die 190 Dinar auskommt. Sicher gibt es noch billigere Viertel als das in der Nähe der Uni und sicher sind unmöblierte Wohnungen deutlich günstiger. Trotzdem müssen diese Familien sicher mit extrem spitzer Feder rechnen und sich Zweit- und Drittjobs suchen.

Als ich der Einladung meiner künftigen Vermieter zum Essen folgen will, weiß ich wieder ganz sicher, warum ich nicht in dem Hostel bleiben will, dass ich sonst eigentlich ganz nett finde. Die Tür ist verschlossen, dabei beginnt die Schließzeit im Ramadan erst um 23 Uhr. Was Zeynat vergessen hatte, mir zu sagen: Die Türen sind zusätzlich zwischen 18 und 20 Uhr geschlossen, damit sie und ihre Kollegin Kauthar in Ruhe kochen und essen können. Nichts, wofür ich kein Verständnis hätte. Bis acht warten kann ich allerdings nicht, denn dann wäre das Essen vorbei. Kauthar macht eine Ausnahme für mich, lässt ihr Essen kurz unbeaufsichtigt auf dem Herd und öffnet mir die Tür. Ohne Laptop auf dem Rücken brauche ich fünfzehn Minuten zu Fuß; dass Gehen eine olympische Disziplin ist, musste mir noch nie jemand erklären. Warum ich extra vor dem Essen geduscht habe, frage ich mich lieber nicht.

Es gibt Kichererbsenbällchen mit Fleischfüllung, Teigtaschen mit Käse beziehungsweise Kartoffeln, Gurkensalat, Reis in einer mit Zitrone versetzten Weinblättersoße, gebackenes Hühnchen, Pepsi. Nichts von dem Essen ist noch warm zu nennen, aber auch darauf bin ich vorbereitet. Die drei Schwestern sitzen mit Lauren, mir und ihrer Mutter am Tisch, zwei der Söhne und der Vater essen nebenan vor dem Fernseher. Der dritte studiert gerade in Arizona, an der Wand hängt sein Foto am Rahmen einer Koransure.

Danach sitzen wir im Wohnzimmer, es gibt Tee, dann Kaffee. Ich schnorre eine Zigarette von der gerade rauchenden Mutter, Enrique verzieht sich zum Rauchen in sein Zimmer – aus Respekt vor seinem Vater. Das erklärt mir seine Mutter allerdings erst, nachdem ich sie um eine Zigarette gebeten habe. Hätte ich die Geschichte vorher gehört, hätte ich den Schmacht ausgehalten. Im Fernseher läuft ein schnell sprechender Mann durch Jerusalem, stellt Männern und Frauen Fragen zu Koran, Geographie oder Mathematik und belohnt richtige Antworten mit 50 Dinar (?)-Scheinen.

Die Mädchen zappen wild durch die Programme, ich erkenne die Gilmore-Girls auf dem Sender aus Quatar, wundere mich mal wieder über die knappen Klamotten der arabischen Sängerinnen und Tänzerinnen und die schier unendliche Zahl arabischer Musiksender, amüsiere mich mit ihnen über Americas lustigstes Homevideos. Mein Favorit: „Ich habe versucht, die Katze zu küssen“, jammert der Junge, der mit dem Kopf im Kratzbaum feststeckt. Klar, dass die Katze als erstes herauskommt. „Haram“, murmelt die Mutter neben mir, was so viel heißt wie „Verboten“ oder „Sünde“. Ich weiß nicht genau, wie ernst es ihr ist. Vorher am Tisch tadelte sie ihre jüngste Tochter, die ihren Teller nicht leer essen wollte, auch mit „Haram“, lächelte aber dabei und leerte den Teller schließlich selbst. Eine Diskussion über Haustiere werde ich hier sicher nicht beginnen; die kleinen Katzen in den Straßen laufen jedes Mal eiligst davon, wenn ich sie rufe.

Als Lauren aufbricht, folge ich. Ihre Eltern sind schon zu Bett gegangen, sagen die Mädchen. Auch etwas, das ich nicht ohne Erklärung verstanden habe. Dass sie ohne Abschiedsworte gegangen sind, irritiert mich. Und plötzlich fällt mir auch wieder ein, dass man die Einladung zu einem arabischen Familienessen erst annehmen soll, wenn sie dreimal ausgesprochen wurde. Ich schäme mich ein bisschen, als ich mit Götz Widmann im Ohr zum Hostel zurück laufe, und nehme mir vor, es beim nächsten Mal anders zu machen.

Auf dem Rückweg sehe ich nur noch Männer auf der Straße, ich schaue kaum nach rechts und links und lege wieder meinen strammsten Schritt an den Tag. Wenn ich doch mal zur Seite schaue, kreuzt mein Blick immer den eines Anderen. Insgeheim hatte ich gehofft, die Familie würde mich nicht nach Hause laufen lassen. Dass sie mir nicht angeboten haben, mich zu fahren, sagt mir andererseits, dass es wohl in Ordnung ist, das Stück auch nach Einbruch der Dunkelheit allein zu gehen. Dafür verzichte ich aber auf den Schlenker weg von der Hauptstraße, der eigentlich angenehmer, weil leiser ist.

In der Moschee ist gerade Hochbetrieb. Davor schaukeln Kinder, durch die Lautsprecher tönt diesmal nicht nur der übliche Singsang vom größten Gott, sondern auch eine Predigt, von der ich immer wieder einzelne Worte verstehe. Die Antwort, die ihm die Betenden in unregelmäßigen Abständen im Chor geben, klingt aus der Entfernung einem „Amen“ sehr, sehr ähnlich.