Montag, 18. Juni 2012

Meine Zeit hier neigt sich nun also dem Ende zu. 8 Monate wie geplant, mit Heimaturlaub und Besuch. Und Zeiten, zu denen ich einfach nur nach Hause wollte.
Die ersten beiden Monate waren Scheiße. Zweimal Tote direkt um die Ecke, Pech beim Versuch, Kontakte zu knüpfen, und zum Teil komplette Desorientierung angesichts der Fülle von Vokabeln und Dialekt, Namen und Ereignissen.
Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen nahm ab und mein Wissen um Ursachen und Verbindungen zu. Das Bild hat sich verändert, die Zahl der weißen Flecken zugenommen. Wie soll ich auch ein Land verstehen, dass derart anderen Faktoren unterliegt als das meine? Die Bindung zu Deutschland ist sicher nochmals gewachsen, aus Dankbarkeit für all die kleinen Dinge, die das Leben so komfortabel einfach machen. Aber wie soll ich verstehen, was das Leben in einem Militärstaat ausmacht, wenn jeder Mann in Uniform mich aufgrund meines Passes ausgesucht freundlich behandelt? (Bitte kein Missverständnis: Ich habe keinerlei Interesse, das Innere von Polizeistationen näher kennenzulernen!) Wie Armut, wenn ich die wirklich armen Viertel nicht wage allein zu betreten? Wie das wahre Ausmaß der sexuellen Belästigung, wenn ich viele der gerufenen oder geflüsterten Obszönitäten zwar höre, aber eben meist nicht verstehe und auf mich beziehe?
Ich frage, sehe, höre. Atme die giftige Luft, spüre die Hitze des Sommers und die Kälte des Winters, gönne mir meine Privilegien wie das Taxi statt den Bus. Möchte manche Leute schlagen, andere küssen. Sitze ich im Café, versuchen schmutzige Kinder mir Taschentücher oder Minze zu verkaufen. Fahre ich Taxi, bin ich ständig auf der Hut und habe schon manchen Fahrer unberechtigt verdächtigt, den Taxameter manipuliert zu haben, aber auch nicht immer falsch damit gelegen. In der U-Bahn wurde mir im Gedrängel versehentlich die Brille von der Nase geschlagen, mittlerweile lasse ich auch mal eine Bahn fahren und warte auf die nächste, weil ich das Extrem-Sardinieren nicht ertrage.
Man muss Kairo ab und zu verlassen können, sonst wird sie unerträglich. Die Wüste mit dem rauschenden Sand und unendlichen Sternen. Der Nil und das lautlose Gleiten der Felucca. Und jetzt das Camp am Roten Meer und der bunte Zoo unter Wasser.
Ich sitze auf einer Terrasse. Polster, Teppiche und niedrige Tische, der fönartige Wind (Stufe zwei für Stärke und Temperatur) raschelt in den Palmzweigen, aus denen das Dach gemacht ist. Hossam, der Camp-Betreiber, hat ruhigen Jazz aufgelegt; Strom gibt es zweimal am Tag für je zwei Stunden aus dem röhrenden Generator. Es ist der letzte Abend nach 3 faulen Tagen – lesen, schreiben, schnorcheln, essen, Yoga.
Der Schnorchel zog Wasser zu Beginn, aber die Szenen dort unten lassen es mich immer weiter versuchen. Es ist wie in einem riesigen Aquarium. Bunt und lebendig. Fische in allen möglichen Farben, Formen und Größen, Korallen wie riesige Kissen oder Armeen von Speeren. Die großen, schwarzen Seeigel finde ich bedrohlich, auch wenn ich sehe, dass ihre giftigen Stacheln kleine Biotope bilden, den kleineren Fischen Schutz vor größeren bieten. Den Drachenfisch finde ich faszinierend schön, auch wenn ich weiß, dass eine Berührung nichts Gutes hieße. Ich schwebe über ihnen und als direkt vor mir ein grün-blau-gelb-schillernder ein großes Stück Koralle abbeißt, verstehe ich plötzlich dieses ständige Knirschen in meinen Ohren – die Fischbevölkerung futtert sich durch das Riff, Tag und Nacht. Als ich am Strand auf einem Stein sitze und warte, welche Bewohner sich so zeigen, versucht erst ein winziger Krebs in meinen Schuh zu klettern und dann eine Krabbe sich ihren Weg an meinem Hintern vorbei zu bahnen, indem sie mir dezent hineinkneift. Zwischen den Balken der Cafeteria haben Tauben ihr Nest gebaut, am Abend kommen der Nachbarhund und wilde Katzen vorbei.
Wer nicht wusste, dass ich ein Faible für Natur und Tiere haben – hier wird es offensichtlich.
Noch etwas mehr als drei Wochen. Ich habe noch einiges zu tun – Fragebögen verteilen, Zeitungsartikel ausschneiden, letzte Interviews führen, Inhaltsanalyse vorbereiten, Abschied nehmen, letzte Geschenke kaufen, packen.
Ich fahre nach Hause. Ich werde wiederkommen. Ich hoffe weiter.

Graffitti Downtown - nachdem das Gesicht aus Hosni Mubarak (rechts) und SCAF-Führer Hussein Tantawi (links vorn) übermalt worden war, entstand innerhalb einer Nacht dieses erweiterte Portrait. Hinter Tantawi die Präsidentschaftskandidaten Amr Moussa und Ahmed Shafik - beide Minister unter Mubarak