Montag, 16. Januar 2012

Ägypten, was nun?
Ich war auf einer Pressekonferenz – eigentlich nur, um ein paar Journalisten kennenzulernen – und die Antwort aller Beteiligten auf die brennende Frage war recht einhellig: Niemand weiß es so recht.
Während das Militär den 25. Januar gerne als Feiertag zelebrieren würde, mobilisieren die revolutionären Bewegungen für Proteste und Trauermärsche. Es wird Demonstrationen geben, darin war sich das Podium einig. Schon über die Frage, ob es wieder große Menschenmengen werden, gingen die Meinungen allerdings auseinander. Ebenso über die Frage, ob die Proteste wieder in Gewalt umschlagen.
Nichts wird passieren, die Leute demonstrieren und gehen dann nach Hause, meinte Hisham Kassem, langjähriger Aktivist und Mitbegründer der privaten Tageszeitung Al-Masry al-Youm. Alles ist möglich, entgegnete Dina Samak, linke Aktivistin und Chefredakteurin der englischen Ausgabe von al-Ahram.
Hier eines der zahlreichen Videos, mit denen derzeit mobilisiert wird. Auch wenn viele Sachen Arabisch sind, sprechen die meisten Bilder und Karikaturen doch auch ohne Worte.



Ein weiteres Thema war natürlich der Rückzug von Mohamed el-Baradei aus dem Rennen um die Präsidentschaft. Baradei hatte am Samstag in einer Videobotschaft erklärt, nicht kandidieren zu wollen, weil das Militär den demokratischen Prozess nicht nur verschleppe, sondern behindere, und nannte als Beispiele die gewaltsamen Auflösungen von Protestveranstaltungen in den vergangenen Monaten und die undurchsichtigen Prozesse von Wahlen und Verfassungsgebung. Die Kandidatur für ein Amt, dessen Rolle und Macht bis heute unklar ist, sei daher nicht mit den Forderungen der Revolution vom 25. Januar 2011 zu vereinbaren. Baradei will zurück auf die Straße und die Jugendbewegungen unterstützen. Böse Zungen dagegen sagen, er habe sich zurückgezogen, weil er erkannt habe, dass er ohnehin nicht viele Chancen habe zu gewinnen.
Die lokale Presse hat Baradeis Rückzug unterschiedlich aufgenommen: Die dezidiert revolutionäre al-Tahrir widmet ihm die gesamte Titelseite, die gemäßigt-kritische al-Masry al-Youm zumindest die Häfte des Titels und die staatliche und sehr einflussreiche al-Ahram gerade mal ein kleines Kästchen in der Mitte des Titelblatts.



Das Podium betonte seinen Respekt für den ehemaligen Chef der internationalen Atomenergie-Behörde und vergiftete das Lob sogleich: Er habe zu lange im Ausland gelebt und wisse nicht, wie man mit ägyptischen Wählern umgehe. Und außerdem, sei er eben kein echter Politiker und habe die Auseinandersetzungen des politischen Geschäfts nicht aushalten können.
Viel umstrittener war und ist die Rolle des Militärs. Kassem und sein Kollege von al-Jazeera, (sorry, da fehlt der Vorname in meinen Aufzeichnungen...) Amr, versicherten, dass das Militär die Macht abgeben wolle, weil den Offiziere bewusst sei, dass ihnen die Eignung fehle, das Land politisch zu führen. Sie wollten lediglich in Sachen Krieg und Frieden und in der Außenpolitik künftig mitreden. Selbst der militärisch-ökonomische Komplex werde über kurz oder lang privatisiert werden, gab sich der Altaktivist Kassem zuversichtlich. Kurz, der Transitionsprozess sei auf einem guten Weg.
Die deutlich jüngere Fraktion des Podiums, Samak und Hatim Talimah sahen das weit kritischer. „Nichts ist bisher passiert,“ resümierte Talimah, „es hat weder eine Restrukturierung von Polizei oder Militär gegeben, noch echte Veränderungen im Mediensystem oder wirtschaftliche Verbesserungen.“ Der Kopf sei weg, das System aber noch intakt. Und eben das könne dem Militärrat durchaus auf die Füße fallen, argumentierten beide.
Denn während Kassam und Amr erklärten, dass das Militär derzeit unantastbar sei und kein gewählter Politiker sich gegen die Macht der Offiziere durchsetzen könne, setzten die beiden Linken auf einen anderen, schon 2011 unterschätzten Faktor. „Die Revolution kann stärker als das Militär sein, vor allem wenn sie von den Arbeitern unterstützt wird“, so Samak. Das hätten unter anderem die Ereignisse auf dem Midan Tahrir im November gezeigt, nach denen die Präsidentschaftswahlen von 2013 auf 2012 vorverlegt wurden, sekundierte Talimah.
Und damit war sich das Podium dann im Grunde wieder einig – die wirtschaftlichen Probleme und die massive Armut sind das Hauptproblem des Landes. Nicht der inszenierte Konflikt zwischen Christen und Muslimen, nicht die Wahlen von Parlament, Schura-Rat (eine Art Oberhaus) und Präsident. Sondern die Frage nach Brot und Miete.
Mein Fazit? Ich bin nicht wirklich sehr viel schlauer als zuvor, aber beruhigt davon, dass selbst langjährige Aktivisten die Lage in Ägypten ein Jahr nach dem Rücktritt Mubaraks unübersichtlich finden. Wie Kassem es formulierte: „ Es ist frustrierend, denn es gibt einfach zu viele Variablen für eine vernünftige Analyse. Alles kann sich täglich ändern.“
Das unterschreibe ich so und freue mich auf meine Interviews mit Kassem und Samak.