Mittwoch, 29. August 2007

Ein Reisetag; zurück nach D. um das Umzugschaos endgültig zu entfesseln. Ich weiß jetzt, wie schnell man wichtige Kabel vergisst. Die Lektion wird umso wichtiger, je weiter die Reise geht und je mehr Geräte dabei sind. Warum die einzelnen Teile nicht zusammen passen, nicht ein, zwei Kabel ausreichen, würde ich wohl gern ergründen. Allein: An eine sinnvolle Antwort glaube ich nicht. Vielmehr daran, dass niemand außer den geplagten Verbrauchern sich darüber Gedanken macht. Oder noch schlimmer: Absicht dahinter steckt und brave Immer-die-gleiche-Marke-Käufer belohnt werden, weil bei ihnen alle Teile zusammenpassen, wenn sie auch immer schön die neuesten Modelle nachrüsten. Schnäppchenjäger wie meinereiner dagegen brauchen ein Stromkabel für das MD-Gerät, eins für die Digi-Akku-Ladestation, eins für die Hub, eins für’s Handy, eins für’s Laptop. Über die Verbindungskabel zwischen den Teilen hab ich noch gar nichts gesagt…

Als ich aufwache, höre ich den Fernseher. Ich mache das Bett sehr ordentlich, decke es mit dem Überwurf ab. Gehe runter, setze Kaffee auf und gehe duschen. Danach packe ich alles zusammen, mein Opa holt das Mittagessen. Ich räume noch ein bisschen auf, gehe auf den Friedhof, um eine zu rauchen und den beiden Steinen „Auf Wiedersehen“ zu sagen, setze mich noch mal mit vor den Fernseher. Die Neigung bei wichtigen Terminen zu früh zu kommen, habe ich wohl von meinem Opa – so wie die Tierliebe und die Schweigsamkeit. Eine halbe Stunde vor der Zeit setzt er mich am Bahnsteig ab.

Ich finde die Wartezeit nicht schlimm; die Sonne scheint und ich kann meinen Gedanken nachhängen. Zumindest erwarte ich das. Ich hab meine Tasche noch nicht abgestellt, da werde ich über die Gleise hinweg angesprochen. Der junge Mann in Blaumann und reflektierender Weste steigt durch den Schotter und über die Schienen; er arbeite bei der Bahn und dürfe das. Ich denke nicht weiter als an eine nette Unterhaltung, er kommt recht schnell zur Sache. Süß sei ich, kaum größer als seine Ex-Freundin, an der er nicht mehr hänge – natürlich nicht. In seinem Leben passiere nicht viel, selbst die Eltern, in deren Haus er wohnt, sehe er nicht täglich. Ich soll ihm schreiben, einmal im Monat einen Brief und jede Woche eine Postkarte. Er sei treu, manchmal zu sehr, und wenn ich es ihm beibrächte, würde er auch Wäsche waschen. Wenn ich ihn besuchen würde, dann wolle er mich mit sechs roten Rosen erwarten, die siebte, eine gelbe, zwischen den Zähnen. Dann wechselt er zurück auf seinen Bahnsteig, wieder mitten durchs Gleisbett, um in den Zug zu steigen, „der mich aus deinem Leben reißt“.

Und wieder mal frage ich mich, warum solche Charmeoffensiven nie von denjenigen kommen, von denen man sie sich wünscht. Und wie es wäre, wenn sie doch aus der gewünschten Richtung kämen. Ob man Rosen und Worte dann annehmen würde und endlich wieder schmachtige Liebesbriefe schreiben könnte, wie ich es das letzte Mal vor über zehn Jahren tat? Oder doch Reißaus nähme, weil nur das Unerreichbare interessant ist?

Verliebt war ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr. Hingezogen ja, das fühlte ich mich zu dem einen oder der anderen. Doch die entscheidenden Schritte fehlten, von mir und den anderen. Als hätten wir Angst vor der Mühe, warteten auf eine noch bessere Gelegenheit, wollten liebgewonnene Angewohnheiten nicht aufgeben, uns einfach nicht einlassen. Zwischendrin verfange ich mich in Träumen, fantasiere mich in vertraute Szenen – Aufwachen nach einer Nacht mit wenig Schlaf, ein gemeinsames Bad an einem verregneten Sonntag, Händchen halten beim Gang durch die Fußgängerzone – und fühle mich schrecklich banal. Schon wieder so lange ohne jemanden, der mich lieben will und darf. Ich sollte doch nun gelernt haben, dass es einen nicht umbringt, keine Beziehung zu führen. Und dass meine Träumereien nichts zu tun haben mit dem, was eine Beziehung tatsächlich ist: Zuerst Unsicherheit, dann Nähe, dann Langeweile – und immer die Hoffnung, dass alles sich bessert mit den verstreichenden Tagen. Nichts ist perfekt, nichts ist einfach, nichts ist klar; war es nie und wird es nie sein. Ich habe verlernt, an glückliche Beziehungen zu glauben. Auch wenn ich das nie zugeben würde.

Ich fahre Zug und es ist nichts anderes zu tun als über diesen Verlust zu grübeln. Ich führe mein kleines, glückliches Leben. Kenne Menschen, die mich mögen. Kenne Menschen, die mich lieben. Habe Pläne, Zeit und Geld. Kann alles tun oder alles lassen. Muss keine Rücksicht nehmen, aber auch keine Entscheidung ganz allein treffen. Werde begrüßt, wenn ich komme. Werde vermisst werden, wenn ich gehe. Werde besucht, wenn ich rufe.

Hier fehlt doch nichts, sage ich mir ein ums andere Mal.

Manchmal glaube ich mir das. Dann wieder ist es die größte Lüge, die ich je denken werde.

Ich nehme zur Kenntnis, wie viele meiner Freunde und Bekannten Beziehungen führen. Bin froh, dass Neid und Eifersucht mich nur selten plagen, ich sie ohne Herzstiche beobachten kann, ihre zärtlichen Blicke und vertraulichen Gesten, ihre selbstvergessene Abgeschiedenheit inmitten lauter, wogender Mengen. Ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis für mich wieder ein richtiger Zeitpunkt kommt. Ein Moment der offenen Augen und Ohren, in dem niemand über Pro und Contra, über Schmerz oder Vertrauen nachdenken und niemand Spielchen spielen wird. Und dann fällt mir wieder auf, wie naiv das ist. Weiß ich das nicht besser?

Im Leipziger Bahnhof wollte ich gerade die Tasche schultern, um die Treppen zum Fahrkartenschalter hinunter zu laufen. Eine ältere Frau griff von hinten nach dem zweiten Henkel. „Na kommen Sie schon“, wehrte sie meinen Protest ab. Erwartete scheinbar weder meinen Dank noch meine guten Wünsche. Ein richtiger Zeitpunkt? Ohne Hintergedanken? Unten angekommen, drehte sie sich zu lächelnd zu ihrem langsamer folgenden Begleiter um. Wollte sie mir helfen oder ihm etwas beweisen? Es macht keinen Unterschied für meine Tasche und meine Knochen. Einzig mein rotierendes Hirn hat Interesse an einer Antwort, die vermutlich nicht mal meine Helferin geben könnte. Auch Altruismus sorgt schließlich für die Ausschüttung von Glückshormonen.

Die Welt ist gut, die Welt ist schlecht. Und schließlich ist doch alles überbewertet und das Glück nie wirklich dort, wo man selbst ist.

*hunderteurofürdiephrasenkasse*